AN DER GRENZE

2015 floh Hanan mit ihrer Familie aus dem Nordirak nach Deutschland. Sie konnte nicht schwimmen, als sie das Mittelmeer in einem Schlauchboot, das auf der Überfahrt beinahe gesunken wäre, überquerten.

Heute gibt das junge Mädchen ihrem Bruder und anderen kleinen Kindern Schwimmunterricht, obwohl sich die Angst vor dem Ertrinken und die Bilder ihrer Reise in ihr Gedächtnis brannten und sie sogar im klaren und ruhigen Chlorwasser des sicheren Schwimmbades einholen.

SEEPFERDCHEN von Nele Dehnenkamp zeigt eine traumatische Grenzerfahrung, ohne die bekannten Bilder zu verwenden. Stattdessen verlässt sich die Regisseurin ganz auf die Erzählungen Hanans und das sterile Umfeld des Schwimmbades, das im Kontrast zu den erschütternden Erinnerungen der Protagonistin von unserer eigenen Verdrängungsleistung erzählt.

Derzeit sind circa 80 Millionen Menschen weltweit aufgrund ökologischer Krisen, Armut, Ausbeutung, Chancenlosigkeit, Krieg und Gewalt auf der Flucht, 10 Millionen mehr als noch vor einem Jahr. Pro Minute müssen circa 20 Menschen ihre Heimat verlassen. Fast die Hälfte aller Flüchtenden sind Kinder.

Durch die Aneinanderreihung von Zahlen allein wird das Problem jedoch kaum greifbarer. Doch auch die Präsenz des Themas in den Bewegtbildmedien hat sich in unserem Gedächtnis nicht eingebrannt. Im Gegenteil hat die Berichterstattung seit 2015 und Merkels „Wir schaffen das!“ drastisch abgenommen. Wie so oft haben andere Themen die Aufmerksamkeit für sich beansprucht. Brexit, Trump und schließlich Corona hielten die Maschine am Laufen, bis wir auch ihrer überdrüssig wurden.

Nichts bleibt uns im Gedächtnis. Verschwindet ein Problem aus den Nachrichten, gehen wir von seiner Lösung aus oder vergessen es schlicht. Flucht ist für uns zu etwas Flüchtigem geworden.

DER WERT DES MENSCHEN

Unser Verständnis heutiger Migrationsbewegungen und die Eindämmungsversuche ebensolcher ist kaum von der Einschätzung des Menschen als „Humankapital“ zu trennen. Wäre die Würde des Menschen unantastbar, würden wir Menschen nicht in Verwertungszusammenhänge setzen. Wir würden den instrumentellen Gebrauch des Menschen nicht zulassen, der ihn reduziert auf Gesundheit, Schönheit und Arbeitsfähigkeit und damit auf konstante Performance-Steigerung. Der Wert des Menschen ergibt sich aus seinem Nutzen für die Wirtschaft.

In diesem Sinne muss auch die heutige Migrationspolitik als eine Folge der Verschiebung von der Arbeitsmarktpolitik hin zur „polizeilichen Frage der Zugangskontrolle zum nationalen Territorium“ beschrieben werden, wie Bernd Kasparek in „Europas Grenzen: Flucht, Asyl und Migration“ schreibt.

Wurden bis zum Beginn der 1970er Jahre noch verstärkt migrantische Arbeitskräfte nach Nord-Europa geholt, wurde Zuwanderung seit den 1980er Jahren zunehmend kontrolliert. Politisch verschob sich ab etwa 1980 die Zuständigkeit für Migrationspolitik von den Arbeitsministerien zu den Innenministerien.

Migration ist damit zu einem Managementproblem geworden, das sich an die Grenzen verlagerte. Das „Übereinkommen von Dublin“ (Dublin I) verdeutlicht mit der „rule of first entry“ zudem, das selbst innerhalb Europas die Gesetzgebung in Bezug auf Asylsuchende nie als Solidarsystem gedacht war, das Flüchtende zum Beispiel nach der Wirtschaftsstärke der einzelnen EU-Staaten gerecht verteilt.

Das Problem – das wurde mit jeder politischen und ökonomischen Krise der vergangenen Jahrzehnte deutlich – ist nicht Migration an sich, sondern die Aufnahmebereitschaft der einzelnen Staaten. Die Ungleichheit zwischen den einzelnen Staaten und deren Folgen sind primärer Grund für Migration sowie die Verweigerung, Flüchtende aufzunehmen. Nur die Beseitigung dieser Ungleichheit wird Migrationsbewegungen verringern und die Aufnahmebereitschaft fördern.
 

SEEPFERDCHEN (2021)
Regie: Nele Dehnenkamp
Bildgestaltung: Tobias Winkel, Sina Diehl
Produktion: Nele Dehnenkamp, Christine Duttlinger

Hauptförderer

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