JOURNEY THROUGH A BODY

Der Titel des Films von Camille Degeye ist in übertragenem Sinne wörtlich zu verstehen: Er geht unter die Haut.

Pure Langeweile

Thomas sitzt mit gebrochenem Bein zu Hause fest. Er versucht, das Beste aus der Situation zu machen. 15 Minuten schauen wir ihm dabei zu, wie er sich die Haare schneidet, isst, auf dem Bett herumlungert, YouTube-Videos schaut, telefoniert und Elektronikteile verlötet. Langeweile macht sich breit.

Und der Film braucht diese Zeit, um Thomas' Gefühlshaushalt auf die Zuschauer:innen zu übertragen, so schmerzlich es sich auch anfühlen mag. Zugleich bietet die Dehnung der Zeit einen intimen Zugang zu Thomas' Welt.

Kreative Collagen

Denn im Grunde genommen sehen wir in dieser ersten Hälfte des Kurzfilms JOURNEY THROUGH A BODY von Camille Degeye der Kreativität beim Entstehen zu. Nach und nach verlässt die Erzählung ihren festen Pfad und führt aus der Langeweile in einem beinahe experimentellen Rausch.

In einer etwa siebenminütigen Sequenz führt der Film von einem Telefongespräch in die Heimat über sich langsam in das Gespräch schleichende Vogelgeräusche und Bilder von Insekten im Dschungel, über die sich wiederum erste Ansätze eines Ambienttracks legen, zu Aufnahmen von Aufnahmen Werner Herzogs im Dschungel weiter zu Thomas, der an Reglern spielt und den Song kreiert, der bereits seit Minuten zu hören ist.

Die Reise durch den Körper ist hier die Reise durch Thomas' Gedanken, zeigt den Weg von der Inspiration zum Ausdruck. Es ist eine fluide Bewegung, die in Thomas' äußerer Erscheinung ihre Entsprechung findet, denn auch er lässt sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen, bewegt sich frei zwischen den Polen.

Komplizierte Brüche

Doch als wäre der Beinbruch nicht genug, vollzieht sich im Anschluss (genau in der Mitte des Filmes) ein weiterer schmerzhafter Bruch. Eine Mitarbeiterin des Sozialamtes möchte mit Thomas den von ihm gestellten Antrag durchgehen und auf Rechtmäßigkeit prüfen.

Das beinahe quadratische Bildformat (1,33:1), die kleinen Räume, die Kamera, die sehr nah an Thomas klebt und die vielen Detailaufnahmen, die zu Beginn des Filmes eine unmittelbare Intimität schufen, zwingen einem plötzlich die Enge auf, die sich im weiteren Verlauf in Ausweglosigkeit verwandelt. Nichts kann sich der Kraft des Raumes nun noch entziehen, alles steht zur Inspektion.

Es ist gar nicht nötig, sich zu fragen, ob die Mitarbeiterin des Sozialamtes tatsächlich zu Antragstellern nach Hause kommen würde. Ihr Eindringen in Thomas' Wohnung steht vielmehr symbolisch für die immer diffuser werdende Grenze von privat und öffentlich zugunsten des Letzteren. Denn es sind nicht nur Privatunternehmen, deren Apps und Algorithmen unsere Körper bis in den letzten Winkel ausleuchten, durch ihn reisen. Es ist auch der Staat, der sich mit seiner neoliberalen Agenda den Körpern bemächtigt, sie überwacht und kontrolliert.

Beide Brüche – Thomas' Bein und die dramaturgische Wende in der Mitte des Filmes – verweisen somit auf die immer klarer zu Tage tretenden gesellschaftlichen Brüche.

SOZIALE FRAGEN

„Nur wer arbeitet, soll auch essen.“ So brachte es in Deutschland in der Phase der Umstrukturierung des Sozialstaates und des Arbeitsmarktes am Ende des vergangenen Jahrtausends einmal ein Arbeitsminister auf den Punkt. Zynischer kann Politik nicht sein.

Doch 15 Jahre später ist etwa ein Drittel der Menschen in diesem Land im Notfall nicht in der Lage, einen neuen Kühlschrank zu kaufen – von Altersvorsorge oder anderen Rücklagen ganz zu schweigen. Die Entsolidarisierung mit den sozial Schwächeren und jenen, die einen alternativen Lebensweg gewählt haben, wie Thomas in JOURNEY THROUGH A BODY, ist auf dem Tiefpunkt.

Viel wurde während der Corona-Zeit von „Systemrelevanz“ gesprochen, doch gemeint war damit immer nur die Ökonomie. Das System jedoch ist nicht die Ökonomie, sondern die Gesellschaft und die sozialen Bindungen der Menschen in ihr. Und hier sind alle relevant.


JOURNEY THROUGH A BODY | Frankreich 2020
Regie/Drehbuch: Camille Degeye
Bildgestaltung: Robin Fresson
Schauspiel: Laurence Hallard, Thomas Kuratli

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