DIE HAUT, IN DER WIR LEBEN

BERÜHR' MICH, Dokumentarfilm von Hendrik Ströhle, Deutschland 2020

Die Haptik des Films

Auf den Umstand, dass nicht nur die Fotografie oder die Kinoleinwand, sondern auch das Filmmaterial selbst wie eine Haut sei, also etwas Lebendiges, beinahe Menschliches besitze, wurde in der Film- und Fotografietheorie schon mehrfach hingewiesen.

So kann man beispielsweise in CHERNOBYL – CHRONICLE OF DIFFICULT WEEKS (1987) die tödliche Strahlung sehen und hören, weil sie beim Flug des Filmemachers Wladimir Schewtschenko über den explodierten Reaktor des Kernkraftwerkes das Filmmaterial beschädigte.

Und im Experimentalfilm wird seit jeher mit der Verletzlichkeit und „Sterblichkeit“ des Filmmaterials gearbeitet, wenn belichtetes Material zerkratzt, in der Sonne ausgeblichen, mit Chemikalien behandelt oder in der Erde vergraben wird. Allein die Haptik des Filmmaterials führt zu einem anderen Denken und zu einem anderen Umgang mit Film.

Es ist somit vielleicht keine allzu gewagte Beobachtung, dass parallel zum Ende des Filmmaterials zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Folge der fortschreitenden Digitalisierung das Zeitalter der Berührungslosigkeit eingeläutet wurde.

Zeit ohne Berührungen

Mit den digitalen Welten bröckeln altbekannte Strukturen. In Skype- und Zoom-Konferenzen kommt uns die Zwischenmenschlichkeit in Handlungen von großer Vergeblichkeit abhanden, die ihren treffendsten Ausdruck wahrscheinlich in der Situation finden, dass man sich online zu sehen versucht, ohne sich jedoch wirklich sehen zu können. Auch Gesten verlieren an Bedeutung. Die sinnliche Erfahrung des Gegenübers ist abgeschafft. Der Touch ist dem Display vorbehalten.

Wir hetzen in eine vernetzte Zukunft ohne Wurzeln. Die Wirtschaft verlangt Konsum statt Intimität, Flexibilität statt Stabilität. Bei allen positiven Errungenschaften des digitalen Zeitalters stellt sich bei vielen das Gefühl ein, die Welt sprichwörtlich durch eine Glasscheibe hindurch wahrzunehmen.

Was wir auch tun, Emotionen, körperliche Nähe und Berührungen lassen sich über das Internet kaum herstellen. Doch für ein gesundes Leben und für sozialen Zusammenhalt in Gemeinschaft und Gesellschaft ist Körperkontakt unerlässlich, denn er reduziert Stress und Angst und stärkt unser Immunsystem. Ohne Berührungen verlieren wir das Vertrauen in uns nicht nahestehende Menschen. Das Ergebnis ist Distanz und soziale Kälte.

Sexualität und Behinderung

Für Menschen mit Behinderung ist die Situation noch einmal ungleich schwieriger. Ihnen wurden lange Zeit natürliche Bedürfnisse oftmals per se abgesprochen. So heißt es zum Teil heute noch, dass Menschen mit Behinderung gar keine Sexualität hätten oder bräuchten oder dass sie sich mit Händchen halten begnügen würden. Auf der anderen Seite wird gern unterstellt, dass Menschen mit Behinderung übersexualisiert seien, weshalb sie und das Thema ebenfalls gemieden werden.

Doch es sind gesellschaftliche Normvorstellungen, die Ausgrenzung prägen. Unser eigener reduzierter Sexualitätsbegriff spielt in diesem Zusammenhang genauso eine Rolle, wie die – aufgrund ausbleibender Aufklärung und geringem Austausch – fehlende Sprache behinderter Menschen für die eigene Sexualität und die Fehlinterpretation der Bedürfnisse durch Außenstehende oder Pflegekräfte. Zudem schränken ungünstige äußere Bedingungen die freie Entfaltung der Bedürfnisse ein, weil beispielsweise die Privatsphäre fehlt.

BERÜHR' MICH von Hendrik Ströhle setzt hier in Form eines sensiblen Porträts ein unwiderrufliches Zeichen. Er unterstreicht, dass der Wunsch nach Nähe und Sexualität Teil einer jeden Identität ist und dass alle Menschen das Recht haben, über ihr sexuelles Leben selbst zu entscheiden.
 
BERÜHR' MICH (2020)
Regie: Hendrik Ströhle
Bildgestaltung: Lisa Jilg
Produktion: Julian Haisch

Hauptförderer

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