In einem Rutsch

STAY AWAKE, BE READY von An Pham Thien ist in einer einzigen Einstellung ohne Schnitte gedreht.

Alles nach Plan

Zu Beginn des Kinos waren Filme nicht länger als eine Minute, einfach weil eine Filmrolle für die Aufnahme diese Länge hatte. Erst um 1902 kamen Filmemacher durch Zufall auf die Idee, mehrere Filmrollen miteinander zu kombinieren und es entstand das, was heute als Schnitt oder Montage bezeichnet wird. Plötzlich bestand ein Film aus Szenen.

Waren diese Szenen zunächst ebenfalls oft nur eine ungeschnittene Einstellung – so wechselte man zum Beispiel oft nur von einem Innenraum nach draußen – verfeinerte sich die Filmsprache mit der Zeit und verbesserter Technik. Die Erzählung wurde in unterschiedliche Einstellungsgrößen zergliedert, wodurch Dramatisierung und Dynamisierung Einzug ins Kino erhielten.

In den 1960er Jahren bestand ein Film etwa aus 700 Einstellungen. Bis heute hat sich diese Zahl etwa verdoppelt. Bei einer Laufzeit von zwei Stunden wird also aller zwei bis drei Sekunden geschnitten.

Eine Besonderheit der Szenenauflösung ist deshalb die Plansequenz – eine ungeschnittene, oftmals mehrere Minuten dauernde Einstellung. Ihre Anwendung ist insbesondere dort sinnvoll, wo eine Begebenheit durch das zeitnahe Auftreten eines Konfliktes bestimmt wird.

So besteht zum Beispiel im Fall von COCKTAIL FÜR EINE LEICHE (1948) von Alfred Hitchcock der Sinn der Plansequenz darin, den Zuschauer:innen die Potentialität des Entdeckens einer Leiche vor Augen zu führen. Kurz vor einer Party geschieht ein Mord, die Täter verstecken den Leichnam in einer Kiste, die von nun an mitten im Raum steht und jederzeit geöffnet werden könnte. In einer virtuosen Choreografie und rasanten Dialogen entsteht die Spannung, die Hitchcocks Filme berühmt gemacht und die Bezeichnung „suspense“ geprägt hat: Das Publikum weiß etwas, was nicht alle Figuren des Films wissen.

Martin Scorsese wiederum nutzt in seinem Film CASINO (1995) zu Beginn eine mehrere Minuten lange Einstellung, um das Funktionieren eines Casinos vor und hinter den Kulissen zu zeigen. Nahtlos werden hier die Spieltische mit den vergnügungssüchtigen Touristen und die Machenschaften in den Hinterzimmern miteinander verwoben. Jeder ist hier Teil eines großen Spiels und die Bewegungen der schwebenden Kamera versetzen das Publikum in einen Rausch, der das Dunkle hinter der glänzenden Fassade zum Verschwinden bringt.

Gesteuerte Blicke

Das Paradox der Plansequenz besteht darin, dass sie den Zuschauer:innen einen Freiraum ermöglicht, weil sie ihre Aufmerksamkeit innerhalb der Einstellung selbständig auf diese oder jene Erscheinung lenken können, sie zugleich jedoch verdeckten Autorenintentionen folgen, weil die Plansequenz trotz vermeintlicher Freiheiten eine den Blick leitende Funktion übernimmt.

In STAY AWAKE, BE READY verweist nun schon der Filmtitel auf Potentiale einer Plansequenz. Immer könnte innerhalb der Einstellung etwas Unerwartetes geschehen. Unsere Wachsamkeit ist hier wortwörtlich gefragt.

Zugleich kehrt der Film die Intention der Plansequenz um, wenn alle handlungsrelevanten, dramatischen Ereignisse außerhalb des Bildes stattfinden oder eine Zuordnung des Gesehenen und Gehörten nicht mehr möglich ist. Es entsteht ein Gefühl von Beiläufigkeit, das mit Montage so nicht herstellbar wäre.

Dafür hat Regisseur An Pham Thien zunächst vier Tage lang mit den Hauptdarstellern geprobt, anschließend einen Tag ausschließlich mit der möglichen Kamerabewegung verbracht und dann noch einmal fünf Stunden die Wege mit allen Statisten einstudiert, bevor der Film aufgenommen wurde. Eine 14-minütige, virtuose Aufnahme, an der mehr als 100 Leute gearbeitet haben.

HÃY TỈNH THỨC VÀ SẴN SÀNG (STAY AWAKE, BE READY) , Vietnam 2019
Regie/Produktion: An Pham Thien
Bildgestaltung: Dinh Duy Hung

Hauptförderer

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